Eine Studie im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ergab, dass jede elfte erwerbstätige Person in den vergangenen drei Jahren sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebte. Ein erschreckendes und zugleich alarmierendes Ergebnis, das die Antidiskriminierungsstelle dazu veranlasste, Lösungsstrategien und Maßnahmen zur Intervention zu entwickeln und einen Leitfaden zum Umgang mit sexueller Belästigung herauszugeben. Im Folgenden möchten wir euch die Ergebnisse der Studie sowie die Handlungsempfehlungen des Bundes einmal genauer erläutern.
Definition: Sexuelle Belästigung
Nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) ist sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ausdrücklich verboten. Das AGG definiert sexuelle Belästigung hierbei als ein „sexuell bestimmtes Verhalten, […] das die Würde der betroffenen Person verletzt“. Unerwünschte sexuelle Handlungen sowie Aufforderungen zu derartigen Handlungen sind somit ebenso untersagt wie sexuell bestimmte körperliche Berührungen oder Bemerkungen sexuellen Inhalts. Darüber hinaus gilt auch das unerwünschte Zeigen und sichtbare Anbringen pornographischer Darstellungen als ein Verstoß gegen das AGG.
Generell untersagt das AGG eindeutig das Schaffen eines „von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen“ gekennzeichneten Umfelds. Dennoch trauen sich viele Opfer sexueller Belästigung nicht, dagegen vorzugehen.
Sexuelle Belästigung als Sonderform der Gewalt
Dabei gilt sexuelle Belästigung als eine Sonderform der Gewalt am Arbeitsplatz. Opfer sexueller Belästigung haben somit sehr wohl eine Möglichkeit, sich arbeitsrechtlich zur Wehr zu setzen. Nichtsdestotrotz unternimmt nach wie vor nur ein Bruchteil der Betroffenen tatsächlich etwas. Das belegen z.B. Daten der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung. Denn: Den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung werden jährlich nur etwa 16.000 Arbeitsunfälle aufgrund von Gewalt gemeldet, die zu einer längeren Arbeitsunfähigkeit geführt haben. Da sexuelle Belästigung hierbei, wie bereits erwähnt, als eine Sonderform der Gewalt am Arbeitsplatz gilt, sind Fälle sexueller Belästigung bereits in diesen gerade einmal rund 16.000 Fällen enthalten. Bei rund 45,3 Millionen Erwerbstätigen (Stand: 2020) ist somit von einer enormen Dunkelziffer auszugehen.
Hohe Dunkelziffer
Auch eine Untersuchung des ARD-Politmagazins „Report Mainz“ legt nahe, dass viele Fälle sexueller Belästigung nicht geahndet werden. Laut einer Umfrage unter den 30 DAX-Unternehmen, die das ARD-Politmagazin durchführte, wurden in den vergangenen zwei Jahren insgesamt gerade einmal elf Belästigungsfälle gemeldet. Bei einer Anzahl von über 170.000 Beschäftigten und in Anbetracht der enormen Machtstrukturen innerhalb dieser großen Konzerne erscheint diese Zahl äußerst niedrig.
Darüber hinaus bestätigt auch eine Forsa-Umfrage im Auftrag des Deutschen Beamtenbundes aus dem Jahr 2018, dass viele Fälle sexueller Belästigung nicht zur Anzeige gebracht werden. 26 Prozent der im Rahmen der Studie befragten Frauen gaben an, bei der Arbeit bereits sexueller Belästigung ausgesetzt gewesen zu sein. Lediglich 44 Prozent der Frauen setzten sich gegen diese Übergriffe zur Wehr, indem sie sich direkt an den Verursacher wandten, Vorgesetzte informierten oder den Betriebsrat einschalteten. Die übrigen 56 Prozent unternahmen hingegen nichts.
Und auch eine Statista-Umfrage aus dem Jahr 2018 deutet darauf hin, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ein zunehmendes Problem darstellt. 49 Prozent der im Rahmen dieser Erhebung befragten Frauen waren der Meinung, sexuelle Belästigung oder sexistisches Verhalten seien im beruflichen Umfeld stark verbreitet. Hier liegt die Vermutung nahe, dass diese Einschätzung auf eigenen Erfahrungen beruht.
Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist also in der Tat ein großes Problem. Das bestätigte jüngst auch noch einmal die eingangs erwähnte Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Welche Ergebnisse diese Studie im Detail zutage brachte, das verraten wir euch jetzt.
Die Studie: Daten, Fakten, Folgen
Ende Oktober 2019 stellte die Antidiskriminierungsstelle des Bundes eine in ihrem Auftrag durchgeführte Studie zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz vor. Die Studie „Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – Lösungsstrategien und Maßnahmen zur Intervention“ wurde von Juni 2018 bis Mai 2019 durchgeführt und basiert gleichermaßen auf einer repräsentativen Telefonbefragung, einem qualitativen Studienteil mit Vertiefungsinterviews von Betroffenen sowie auf Fokusgruppendiskussionen mit verschiedenen Zielgruppen. Darüber hinaus wurden im Rahmen der Studie diverse Rechtsfälle ausgewertet.
Insgesamt wurden für die Studie 1.531 Personen, die in den vergangenen drei Jahren beschäftigt waren (inklusive Auszubildenden, Praktikanten und Selbständigen) zum Thema „Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“ befragt – mit schockierendem Ergebnis.
Daten und Fakten
Der repräsentativen Befragung zufolge wurde in Deutschland in den letzten drei Jahren jede elfte erwerbstätige Person Opfer sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Rund 9 Prozent der Befragten gaben demnach an, bereits sexuelle Belästigung erfahren zu haben.
Frauen waren der Studie zufolge mit einem Anteil von 13 Prozent mehr als doppelt so häufig betroffen wie Männer (fünf Prozent). Frauen sehen sich somit deutlich häufiger mit sexueller Belästigung konfrontiert.
Mehr als die Hälfte der Betroffenen (53 Prozent) gab an, dass die von ihnen erlebten sexuellen Belästigungen am Arbeitsplatz von Dritten ausgingen, also z.B. von Kunden, Patienten oder Klienten. Dahinter folgten Kollegen (43 Prozent) und Vorgesetzte (19 Prozent). Mehrheitlich gehen die Übergriffe der Studie zufolge von männlichen Personen aus. 82 Prozent der Betroffenen gaben ausschließlich oder überwiegend Männer als Täter an.
Besonders Beschäftigte in Gesundheits- und Sozialberufen sind laut Studie von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen – allen voran durch Kunden oder Patienten.
Generell reicht die Spannweite der sexuellen Belästigungen laut Befragung von unangemessenen Kommentaren, Witzen und Gesten bis hin zu Berührungen und anderen Handlungen. Am häufigsten kam es zu verbalen Belästigungen wie sexualisierten Kommentaren (62 Prozent) oder Belästigungen durch Blicke und Gesten (44 Prozent). 26 Prozent der Betroffenen (rund ein Viertel!) gaben jedoch auch an, unerwünscht berührt oder bedrängt worden zu sein.
Die große Mehrheit der Belästigten (acht von zehn der Befragten) gab zudem an, wiederholt solche Situationen erlebt zu haben.
Folgen
Sexuelle Belästigungen haben oft weitreichende Folgen für die Betroffenen. Laut Studie empfanden die Betroffenen die sexuelle Belästigung vielfach als erniedrigend und abwertend sowie als bedrohlich. 48 Prozent der betroffenen Frauen und 28 Prozent der Männer gaben an, sie hätten sich durch die Belästigung mittel bis sehr stark erniedrigt und abgewertet gefühlt. 30 Prozent der Frauen und 21 Prozent der Männer empfanden die Situation zudem als mittel bis stark bedrohlich. Und 41 Prozent der Frauen und 27 Prozent der Männer berichteten bei der Befragung sogar von mittelstarken bis sehr starken psychischen Belastungen als Folge der sexuellen Belästigung.
Umgerechnet lediglich rund 4 Prozent der Betroffenen gaben jedoch an, professionelle Unterstützung in Beratungsstellen und anderen Einrichtungen gesucht zu haben. Die Mehrheit der Betroffenen versuchte demnach allein mit der Belästigung klarzukommen. Vier von zehn Betroffenen sexueller Belästigung wandten sich hingegen an Dritte, davon am häufigsten an Kollegen (47 Prozent), Vorgesetzte (36 Prozent), Freunde oder Familie (15 Prozent).
Zwischenfazit
Vielen Betroffenen fällt es schwer, über die sexuelle Belästigung zu sprechen, weshalb nur wenige Fälle sexueller Belästigung am Arbeitsplatz offiziell gemeldet werden. Auch die Angst, die Situation falsch einzuschätzen oder durch eine Beschwerde Nachteile zu erfahren, kommt hier zum Tragen.
Welche Auswirkungen sexuelle Belästigung auf die Betroffenen hat, bringt eine weitere Studie aus dem Jahr 1990 zum Vorschein. Betroffene berichteten von:
- weniger Spaß am Beruf
- enormen Konzentrationsschwierigkeiten
- verschiedensten Krankheitssymptomen
- Zweifeln an der beruflichen Eignung.
Mitunter gingen die Selbstzweifel der Betroffenen sogar so weit, dass sie ihren erlernten Beruf oder ihre Karriereabsichten aufgaben und kündigten.
Um solche Szenarien künftig zu vermeiden, brachte die Antidiskriminierungsstelle nun einen Leitfaden für Beschäftigte, Arbeitgeber und Betriebsräte heraus.
Handlungsempfehlungen der Antidiskriminierungsstelle
Familienministerin Franziska Giffey (SPD) äußerte sich bei der Präsentation der Studienergebnisse bestürzt über das Ergebnis der Befragung und betonte, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz unter die Rubrik Gewalt falle und keinesfalls als Kavaliersdelikt verstanden werden dürfe. Darüber hinaus seien Arbeitgeber dazu verpflichtet, für den Schutz der Beschäftigten zu sorgen.
Die Antidiskriminierungsstelle rät Betroffenen dazu, jeden Vorfall sexueller Belästigung zu dokumentieren und sich an Personal- oder Betriebsrat, Gleichstellungsbeauftragte oder Vorgesetzte zu wenden. Außerhalb des Betriebs stehen zudem Gewerkschaften, Anwälte, Frauenberatungsstellen oder die Antidiskriminierungsstelle des Bundes Betroffenen beratend zur Seite.
Betroffene sollten bestenfalls sofort, jedoch so bald wie möglich für klare Verhältnisse sorgen und klarstellen, dass sie sexuelle Belästigung nicht hinnehmen werden. Sexuelle Belästigungen sollten niemals ignoriert werden.
Allen Gesetzen und Aufklärversuchen zum Trotz ist die Dunkelziffer der Fälle sexueller Belästigung am Arbeitsplatz jedoch nach wie vor hoch. Betroffene sollten sich daher bewusst machen, dass sie kein Einzelfall sind und auch nicht der bzw. die Schuldige.
Um betroffene Personen zusätzlich zu stärken und zu ermutigen, sich gegen sexuelle Belästigung zur Wehr zu setzen, aber auch um Arbeitgeber und Betriebsräte für dieses Thema zu sensibilisieren, brachte die Antidiskriminierungsstelle einen Leitfaden für Beschäftigte, Arbeitgeber und Betriebsräte heraus. Interessierte können die Empfehlungen der Antidiskriminierungsstelle hier im Detail nachlesen.
Fazit
Sexuelle Belästigung im Arbeitskontext ist ein weitverbreitetes Problem. Besonders dort, wo Machtverhältnisse eine Rolle spielen, ist von einer hohen Dunkelziffer der Fälle sexueller Belästigung auszugehen.
Sexuelle Belästigung ist jedoch kein Kavaliersdelikt. Betroffene sollten nicht schweigen, Kollegen sollten nicht wegschauen. Jeder Fall sexueller Belästigung ist einer zu viel!
Unsere Autorin Patricia Schlösser-Christ studierte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und arbeitete anschließend an der Volkshochschule Worms. Als Kulturanthropologin M.A. widmet sie sich seither dem Schwerpunkt Erwachsenenbildung / Weiterbildung und hat dabei auch die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt stets im Blick.